Das Leben der Dinge oder: Auch Nutzfahrzeuge haben eine Seele

Es ist Donnerstagabend, nach 22 Uhr, ich stehe in der Ecke hinterm Vorhang, habe endlich Feierabend. Erschöpft bin ich vom Tag und der Leistung, die ich bringen muss, ohne selbst gefragt zu werden. Zuverlässig tue ich das, was man von mir verlangt. Meistens tue ich es gern, nur selten streike ich. Täglich bringe ich SIE dorthin, wo sie hin will: zur Arbeit, ins Kino, zum Einkaufen, zur Physio, Spaziergänge liebt sie, Großer Garten, Dresdner Heide … , wegen mir kann sie im Chor mitsingen und Kindergottesdienste halten, kann Elternabende, Theater, Galerien und Konzerte besuchen, in den Urlaub fahren. Ich fahre mit ihr Straßenbahn, Bus und Zug, mache einfach alles mit, solange keine Treppen und ähnliche Hindernisse im Wege stehen. Was wäre SIE ohne mich!

Zugegeben, ich müsste mal wieder geputzt werden. Das tue ich aber nie von allein, dass muss SIE einfach auch mal selber machen. Jetzt stehe ich in der Ecke und tanke  – nein, kein Feierabendbier! Strom will ich haben zum Abendbrot, 220 Volt, früher nach ca. 20 Kilometern, heute schon am liebsten nach zehn. Ich komme eben auch in die Jahre, habe ja nun auch schon fast 9.000 km auf meinem Buckel. Ihr Mann ? – NEIN, das bin ich bestimmt nicht! Ein anderer Lebensabschnittsgefährte bin ich, einer mit vielen Vorzügen  – ein … nein, IHR E-Rolli bin ich!
Sie ist mein Frauchen und ich mache, was Sie will.

Zugegeben, ich höre zu viel Radio, sehe fern und … belausche Gespräche. Na, was soll man auch machen, wenn man immer überall mit hin muss! Aber so bekomme ich einiges mit und höre mitunter Dinge, die echt nicht rollstuhltauglich sind. Gespräche zum Beispiel, wo man zwischen den Zeilen oder auch ganz offen erfährt, dass unsereiner gar nicht so beliebt ist, wie ich immer dachte. Da gehen Leute lieber gar nicht aus dem Haus, vergessen einfach, dass sie mal gern im Theater oder in der Stadt „biddeln“ waren, lassen lieber einkaufen und essen Zeug, was sie sich selber im Supermarkt nie aussuchen würden, verzichten auf Spaziergänge bei herrlichstem Frühlingswetter und auf Eisbecher im Schatten einer Palm... (oh, jetzt übertreibe ich…tschuldigung!) im Schatten irgendeines mitteleuropäischen Baumes mitten im schönsten Sommer hier in Dresden oder irgendwo im Urlaub … und das alles könnte ICH ihnen ermöglichen, würde mein Bestes geben, ehrlich! Aber die wollen mich nicht! Warum? Was ist so schlecht an mir? Bin ich hässlich? Unsozial? Stinke ich?

Zugegeben, es gibt auch ein paar Vertreter meiner Art, deren Äußeres nicht ganz so ästhetisch gelungen rüberkommt. Die haben eben halt auch so ihre Problemzonen  …man ist zu breit in der Hüfte, hat zu dicke Reifen, zu starke Nebengeräusche, wirkt durch eine zu großen Wendekreis zu raumnehmend, oder die Proportionen entsprechen  nicht annähernd dem goldenen Schnitt… Ich hoffe aber, dass die Besitzer von mir und meinesgleichen uns trotzdem sehr selbstbewusst und mit allen Vorzügen nutzen und all das oben Erwähnte, bis hin zur Fastpalme, genießen und unsere Werte zu schätzen wissen. Denn, wer ist schon perfekt!

Heute Abend habe ich wieder Fernsehen geguckt. Das war echt ein Fehler, da habe ich bald die Krise gekriegt. Sowas wirft mich enorm zurück in meinem Selbstwertgefühl! Auf MDR eine Reportage über eine gehbehinderte Frau, die erfolgreich ihr Medizinstudium geschafft und auch eine Stelle als Assistenzärztin gefunden hat. Guter Beitrag, sehr beeindruckend, tolle Frau, ohne Zweifel … aber warum muss in diesem Zusammenhang vom „drohenden Rollstuhl“ und dem Rollstuhl, der wie ein „Damoklesschwert über allem schwebt“ berichtet werden? Da frag ich mich, als dienender und zu allem bereite E-Rolli doch: Wieso bin ich eine Bedrohung? Was muss ich noch tun, damit man meine Qualitäten erkennt? Ich verstehe ja, dass keiner mich will, wenn er mich nicht wirklich braucht. Bestehe ich auch nicht drauf, will ja nicht wie so ´ne Brille mit Fensterglas sein. Aber das man, obwohl man mich ganz gut gebrauchen könnte lieber auf Krückstöcke, klapprige Rollatoren oder monströse E-Mobile ausweicht, die einen allenfalls nur eine Teil der Strecke, die man mit mir schaffen könnte, vorwärts bringen, das verstehe ich nicht! Und: es verletzt mich auch! Was bitte ist an einer Krücke besser als an einem E-Rolli, oder zugespitzt: Was ist an einem Krückengeher besser als an einem E-Rolli-Fahrer? – Sorry, an dieser Stelle werden ich immer etwas emotional…

Ich glaube, jetzt muss ich noch kurz was richtig stellen. Ich habe nichts gegen Gehhilfen, Rollatoren, … auch nichts gegen sportliche, attraktive Aktivrollis (bei deren Anblick ich immer etwas rot werde, aber das ist ein anderes Kapitel). Da bin ich sehr tolerant, solange sie die optimale Lösung für Frauchen oder Herrchen sind. Eckig werde ich an der Stelle, wenn gewisse Hilfsmittel von sich glauben, etwas Besseres zu sein, nur weil sie weniger kompensieren müssen. Da sag ich nur: der Erfolg zählt!

Zugegeben: ich bin ja auch nicht so ganz billig zu haben. Die, die mich finanzieren bezahlen natürlich auch lieber nur ein paar Krücken oder so.  Wenn`s andersherum wäre, wären wir auch ganz schön sauer. Da müssen unsere Nutzer schon wissen, was sie wollen: vom Balkon nur gucken oder im Leben mittendrin sein. Ich glaube, kämpfen um den optimalen Lebensabschnittsgefährten lohnt sich auch an dieser Stelle. Ich als E-Rolli und meine Artgenossen sind besser als unser Ruf. Ehrlich!!! Mit uns könnt ihr Eure Freiheit erfahren – durch Wiesen, Täler und Berge, Einkaufszentren, Kirchen, Theater und Konzertsäle … erfahren, wortwörtlich, ganz real, mit ´nem Motor, guten Akkus und vier Rädern! Oh Mann– das klingt wie echter politischer Wahlkampf. Vielleicht sollte ich eine Bewegung gründen: vielseitig dienende E-Rollis gegen zu wenig Akzeptanz unter potentiellen Nutzern oder so??? Huch, mal sehen … vielleicht werde ich ja doch noch beliebt …

Es grüßt: der E-Rolli meines Frauchens eku